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(c) Wolf Bendikowski

Lough Key Forest, Irland, 1. Juni 1420

 

___________

 

Der Sonne Abendlied gebar

den Schimmer rot auf ihrem Haar,

in dem, kaum war der Mond erstanden,

sich immer neue Geister fanden.

 

Sie lockten Dich wie Feuerschein

die Motte in die Glut hinein,

ergriffen Dich, bis ganz in Flammen

Du ihr verfielst, in Dich zusammen.

 

Wohl dem, der weiß, wie Engel tanzen.

Zu jener Jenseitsmelodie

fügtet ihr Teil und Teil zum Ganzen,

 

als sich der See den Himmel lieh,

da schien dort allen Seins die Mitte

und dessen Herr, wer sie durchschritte.

 

___________

 

Ein Schatten legte sich langsam über den Wald, als er ihn durchstreifte. Darin mischte sich die schwarze Finsternis der anbrechenden Nacht mit dem langsam verglühenden Rotton der letzten Sonnenstrahlen zu einem rosig wabernden Nebel, der noch konturlos um ihn schwebte, ihn aber bald ganz umfangen würde, würde er erst den See erreicht haben. Noch lag eine leichte Anhöhe, die vereinzelt mit Bäumen bewachsen war, vor ihm und versperrte ihm den Blick. Obwohl er es kaum erwarten konnte, freie Sicht zu haben, beschleunigte er sein Tempo nicht, da ihn der Weg von der etwa eine halbe Meile weiter südlich auf der in den See hineinragenden Landzunge gelegenen Siedlung schon zur Genüge erschöpft hatte, sondern trabte gemäßigt weiter. Bald befand er sich zwischen den Bäumen, kurzzeitig wurde es dunkler, dann jedoch lichtete sich das Gehölz und er konnte seine Augen unbehindert an dem fast endlos weiten See zu seinen Füßen weiden.

Natürlich lohnte sich der Weg hierher immer und er hatte schon manche Nacht zum Vergnügen am Ufer des Sees verbracht, doch diesmal trieb ihn etwas anderes dazu. Es war die Furcht, die Furcht vor sich selbst, die ihn vor der Zivilisation hatte fliehen lassen. Und der Grund dafür lag am Himmel, war dort schon den ganzen Nachmittag über sichtbar gewesen. Nun schlich er sich von hinten an den Mann heran, dessen ganzer Sinn auf dem Stern ruhte, der vor seinen Augen versank. Der kleine Trabant starrte wie ein großes, weißes Auge auf ihn herab, als wollte er ihm sagen: "Du kannst Dich nicht vor mir verstecken - ich bin Dir bis hierher gefolgt und ich werde Dir überallhin folgen, wenn es sein muss." So flüsterte es sein Schimmer in den Nacken des Mannes und als hätte jener gehört, was die Stimme ihm zurief, vielleicht in Gedanken, drehte er den Kopf, weg vom roten Schein und hin zum Weißen. Er wusste genau, dass der Mond unrecht hatte, denn in Wahrheit war nicht er sein Feind, konnte ihn nicht überwältigen, der Funken, dessen es bedurfte, dass sich sein ganzes Wesen in den Flammen des unvorstellbaren Greuels verzehrte, lag in ihm. Der Mond war nur der Eingang in die Höhle der Bestie, der sich jeden Monat für kurze Zeit so weit auftat, dass sie hinaus konnte, doch er selbst musste hinein treten und sie wecken, es lag in seiner Macht - und auch wieder nicht. Wut war der Schlüssel, wie so oft, und die Menschen, die ihn umgaben, hielten ihn in der Hand. Sie machten ihn wütend, immer wieder, im tiefsten Inneren seiner Seele wusste er, dass er sie hasste. Doch das hinderte ihn nicht, sie schützen zu wollen, vor sich selbst und vor ihm, dem Gespenst ihrer Aggressionen, das sie immer wieder aufs Neue heimsuchen sollte. Vielleicht war dies eine Fügung Gottes. Was immer es war, er konnte dem nicht nachgeben. Wieviel Hass auch in ihm war, sein Mitgefühl, sein Gerechtigkeitssinn war stärker. Ein schlechter Charakter rechtfertigt nicht den Tod eines Menschen. Mochte er ihn noch so sehr quälen. Wie sie ihn alle quälten! Sogar mich empören all ihre Unverschämtheiten zu sehr, als dass ich davon berichten könnte. Ich möchte den Leser bitten, dafür Verständnis zu zeigen. Ihm sei versichert, dass der genaue Tatbestand ihrer Verbrechen für die Geschichte vollkommen belanglos ist.

Doch jener einsame Mann, der sich an den See geflüchtet hatte, um seinen Peinigern nicht gefährlich werden zu können, gedachte in jenem Moment all dieser Erniedrigungen. Und es wollte gerade das geschehen, wovor er solche Angst hatte, er wollte sich verlieren, wütend werden, Tier werden. Seine Augen weiteten sich, als wollten sie mit dem Himmelsauge konkurrieren, seine Lippen öffneten sich und entblößten strahlend weiße Zähne in seinem kräftigen Kiefer, den er halb aufriss, während seiner Kehle so etwas wie ein dumpfes Grollen entfloh. Seine Iris, an Farbe von Natur aus graubraun, begann, ein unnatürliches, matt gelbes Leuchten anzunehmen. Als der aufkeimende Nebel den natürlichen Glanz der Augen fast vollständig überlagert hatte, hielt der Mensch jedoch inne. Mit Gewalt bog er seine geballten Fäuste auf und streckte seine Finger weit auseinander, entgegen dem Befehl aus seinem Gehirn und dem muskulären Bestreben seines ganzen Körpers. Obwohl seine Arme von dieser widernatürlichen Verkrampfung zitterten, zwang er sich, sie zu heben und in sein volles, schwarzes Haar zu greifen - hier war er besonders schmerzempfindlich. Nun ließ er den Fäusten ihren Willen, sie schnappten zu und mit einem unbarmherzigen Ruck rissen sie die glänzende Pracht auseinander. Der Schmerz blockierte jäh jene Gefühle, die ihm eben noch den Boden unter den Füßen hatten wegreißen wollen, ließ sie zusammen mit der Realität um ihn herum verschwimmen und schließlich versiegen. Sein Körper indessen versagte ihm kurzzeitig den Dienst, seine Knie gaben nach, sein Kiefer klappte zu und er sackte zusammen. Als der Schwindel nachließ, pochte die selbst zugefügte Wunde in seinem Schädel wie ein eingesperrtes Tier - er schenkte ihm die Freiheit und entließ ein lautes Heulen in die Nacht. Es hatte nichts Tierisches. Ein langgezogener Schrei, ein unschöner, aber menschlicher Laut.

Von dem Gebrüll aufgeschreckt geriet weiter unten am Seeufer etwas in Bewegung. Hier befand sich ein weiterer Mensch, der dem Ruf der Einsamkeit gefolgt war, aus ähnlichen und doch völlig anderen Gründen als der verzweifelte Mann. Sie kam hierher, nicht, weil sie die Menschen, sondern, weil die Menschen sie nicht mochten - wobei "nicht mochten" eine schwere Untertreibung ist. Sie, das war ein Mädchen von jugendlichem, gerade reifem Alter, dessen Körper jedoch noch keinen der Makel zeigte, die jenes mit sich bringt. Überhaupt ist Makel ein Ausdruck, der einem bei ihrem Anblick am wenigsten in den Sinn kommen konnte. Ihre Haut war von vornehmer, doch nicht aufdringlicher Blässe, wie es in diesem Teil der Welt nicht unüblich war. Dazu gesellten sich ein Paar smaragdgrüner Augen und ein Schopf roter Haare, die im sanftesten Windhauch flatterten und nur bei völliger Flaute ganz über ihren zierlichen Körper fielen. Was missfiel den Leuten an ihren Haaren? War es Neid, der ihre Antipathie gegenüber dieser Person nur aufgrund des Kopfbewuchses weckte? Es sei gesagt, dass diese Haarfarbe wo wir uns befinden ebenfalls recht verbreitet war. Und längst nicht alle ihre Eigner wurden ausgegrenzt, verachtet, doch gerade beim weiblichen Geschlecht war dies seit gewissen kulturellen Veränderungen keine Seltenheit mehr. Doch warum - es sei dahingestellt. Das Mädchen selbst verstand es nicht. Sie hatte es nichtsdestotrotz längst akzeptiert und als Konsequenz mied sie den Kontakt zu den anderen Dorfbewohnern, wann immer es ihr möglich war. Heute war es möglich. Den ganzen Tag hatte sie im Wald und am See verbracht und gerade überlegte sie sich, die Nacht über ebenfalls dort zu bleiben, schließlich sollten es die sommerlichen Temperaturen gestatten, als sie das oben aufgeführte Geräusch hörte und aus den Gedanken gerissen wurde. Sofort bekam sie es mit der Angst zu tun - handelte es sich um ein wildes Tier, das sie hier aufgespürt hatte? Nach kurzer Verarbeitungszeit fiel ihr jedoch auf, dass es ein Mensch gewesen sein musste, der diesen Laut ausgestoßen hatte. Dennoch stolperte sie durch die Gegend und sah sich verwirrt um, da ihr die Sache doch ein wenig unheimlich vorkam.

Der Schreihals selbst begann langsam, sich wieder zu fassen und stellte erleichtert fest, dass noch alles seine natürliche Ordnung hatte. Zwar erschienen die Welt und der Mond, auf dem seine Augen nach wie vor ruhten, noch ein wenig verschwommen, doch er hatte nicht ganz den Kontakt zu ihr verloren. Das erleichterte ihn so sehr, dass er lächeln musste. Auf einer seiner Handflächen spürte er ein kleines Rinnsal, offenbar hatten sich seine Fingernägel - seine Krallen - so stark hineingebohrt, dass sie in die Haut geschnitten hatten. Es störte ihn nicht. Alles war gut gegangen. In diesem Zustand, der nah an Glückseligkeit grenzte, bemerkte er plötzlich das Mädchen am Seeufer. Sie schien durcheinander zu sein, offenbar eine Folge seines Schreies. Für einen Moment fühlte er sich schuldig an ihr, besann sich dann, zu ihr zu gehen und alles aufzuklären - jedoch: alles? Wie würde sie reagieren auf jemanden wie ihn? -, zögerte allerdings noch kurz und sah ihr noch ein wenig zu. Ihre Bewegungen waren ruhiger geworden und sicherer, wie sie sich im letzten Sonnenschein drehte und gleichmäßig hin und her schritt, wirkte sie fast auf ihn wie eine tanzende Prinzessin. Natürlich hatte er noch nie eine Prinzessin gesehen, doch er verband etwas würdevolles mit diesem Begriff. Sie strahlte so eine Reinheit und Schönheit aus, dass ihre Seele unmöglich so verdorben sein konnte, ein gepeinigtes Wesen wie ihn zum Teufel zu schicken. Würde sie Angst bekommen? Er würde sie beruhigen. So entschloss er sich schließlich, sein Glück zu wagen und in aller Offenheit und Verbindlichkeit an sie heranzutreten.

Als der Mann sich ihr näherte, bemerkte sie ihn nicht sofort, da sie nur noch flüchtige Blicke in alle Richtungen um sich warf und die Suche schon aufgeben wollte, um abzuwarten, was weiter passieren würde, das Rascheln des Grases verriet ihn jedoch, bevor er sie ganz erreicht hatte. Das war gut, denn so heilt sich ihr Schrecken, als er aus dem Nichts auftauchte, in Grenzen, da sie noch Zeit hatte, die Gestalt, die ohne Eile auf sie zuschritt, ein wenig zu mustern. Sie hatte ihn schon einmal in der Siedlung gesehen, aber nie mit ihm gesprochen, ein sehr verschlossener Typ. Seinen Namen kannte sie nicht und sie war sich nicht sicher, ob er sie schon einmal bemerkt hatte, denn er lebte zurückgezogen und schien von anderen Menschen nichts wissen zu wollen, ähnlich wie sie. Vermutlich traute er sich nicht an die Öffentlichkeit, doch als sie ihn so betrachtete, konnte sie keinen Grund dafür finden. Er war mit Sicherheit einer der bestaussehenden Männer des Dorfes, wie sie schon früher bemerkt hatte. Und nun waren sie beide hier allein ... Plötzlich fiel ihr wieder ein, was eben vorgefallen war und wie gerne sie ihre Verwirrung darüber aufklären würde. Da er zweifellos nicht das erste Wort ergreifen würde, obwohl er, wie es schien, schon darum rang, denn er öffnete immer wieder den Mund ein kleines Stück, um ihn dann jedoch lautlos wieder zu schließen, sprach sie ihn an, ein wenig unsicher, welche Worte sie wählen sollte, wie er reagieren, als was sich ihr erweisen würde. "Mein Herr? Ich kenne Sie. Aus dem Dorf. Sie wissen... natürlich, es ist ja das Einzige in der Gegend. Was treibt Sie hierher? Was... sollte das eben? Das waren doch Sie? Der Schrei, meine ich? Und... verzeihen Sie, aber wie ist Ihr Name? Ich heiße May."

Das entsprach nicht ganz seiner Vorstellung. Nicht nur, dass er es selbst nicht geschafft hatte, sie anzusprechen, sie hatte das Gespräch schon in alle Richtungen gelenkt, die er möglichst umschiffen, auf jeden Fall aber mit größter Vorsicht angehen wollte. Nichtsdestotrotz war er froh über das, was sie gesagt hatte. Ihre Worte klangen keineswegs empört oder feindlich, im Gegenteil schien sie sehr interessiert, als wollte sie wirklich auf ihn eingehen und ihn nicht nur so schnell wie möglich loswerden. Sie hatte ihm sogar ohne Weiteres ihren Namen gesagt. Vielleicht sollte er gar Recht behalten mit seiner Einschätzung, was ihr gutes Herz betraf. Die Vorstellung, womöglich tatsächlich einem lieben Menschen begegnet zu sein, überwältigte ihn. Und dann erst ihre Stimme, so warm und gütig. Das alles ließ ihn, bevor er antwortete, seine Zweifel beiseite schieben und bewog ihn, ihr rundheraus die Wahrheit zu sagen. "May, verzeihen Sie mir... mein Name ist Justin, aber ich muss gestehen, dass ich Sie noch nie gesehen habe und eine Erscheinung wie die Ihrige wäre mir zweifelsohne im Gedächtnis geblieben. Wissen Sie, ich... ich bin gern allein. Ich halte nicht viel von den meisten Menschen, sie sind dumm und gemein - nicht nur zu mir. Aber es gibt andere Gründe, warum ich nicht ihre Nähe suche. Gerade heute nacht muss ich allein sein und welcher Ort wäre dafür besser geeignet als dieser? Sie lächeln ja... oh, Sie sollten nicht lächeln. Ich bin verflucht. Ich weiß nicht, warum Sie die Einsamkeit suchen, aber besser hätten Sie sie gefunden als mich. Lassen Sie mich... kommen Sie nicht näher. Dieser Schrei... wollen wir uns nicht setzen?" Sie wollte. Die Sonne war verschwunden, inzwischen war es Nacht. "Sehen Sie, es ist... es ist schrecklich. Ich bin kein Mensch! Die Leute müssen mich hassen, wie ich sie hasse. Doch ich darf nicht wütend auf sie werden, sonst... ich kann es Ihnen nicht sagen... bitte..."

Langsam waren ihm die Tränen in die Augen gestiegen und nun begann er ernsthaft zu weinen. Er legte den Kopf in seine Knie und, als sie den Arm um ihn legte und sich ihm anbot, an ihre Brust. Er wollte nicht, doch ihm fehlte die Kraft. Am liebsten hätte er gar nichts weiter getan, als sich dort auszuweinen, vor allem nichts weiter gesagt. Wie gut sie auch sein mochte, war es tatsächlich möglich, dass sie ihn akzeptierte, wenn er sich ihr als Monster enthüllte? Und wie sollte er sie beruhigen, wenn er sich doch jetzt schon nicht mehr im Griff hatte? Wie sollte er sie halten? Bei Gott, wenn er sich ihr enthüllte, sie ihn verließe und ihn dann verriete? Doch ihr Arm, der um ihn lag, wirkte wie eine Presse und sie streichelte sanft die Wahrheit aus ihm heraus. "Wirklich, Sie werden mich... D-Du wirst mich... May, Du wirst mich hassen, den heutigen Tag hassen, da ich Dir begegnet bin... unmöglich... doch, ich kanns Dir nicht verschweigen, frag nicht, ich weiß nicht, warum, doch ich weiß, ich muss es Dir sagen. ...es... ist so... bei Vollmond - nicht vom Mond an sich! Du siehst ja, ich liege, ich meine, ich sitze hier bei Dir ganz ruhig, doch, wenn ich wütend werde... nur ein bisschen wütend... o Gott..." Und wie er es sich vorgenommen hatte, eröffnete er ihr alles, gleichzeitig mit den Tränen, die die Schulter der armen Frau völlig durchnässten, sprudelten die Worte in Schwällen, immer wieder von Schluchzern unterbrochen, aus ihm heraus und umnebelten ihren Verstand.

So emotional hatte sich ihr lange niemand mehr gezeigt und das Vertrauen, das er in sie legte, erstaunte sie. Zwar schockierte sie sein Geständnis, aber sie konnte ihm nicht böse werden und schon gar nicht vor ihm davonlaufen, wie er so als Häufchen Elend bei ihr lag. Ja, er lag tatsächlich mehr, als er saß, obwohl er dies vorhin so korrigiert hatte. In ihr keimte der Verdacht auf, dass er nicht oft bei einer Frau lag und er dies nicht eingestehen wollte - so plötzlich, wie sie beide sich auf dem Boden eingefunden hatten, muss es ihm wohl ein wenig unangenehm gewesen sein, weitere Gedanken in diese Richtung zu verfolgen. Schließlich hatten sie sich eben erst kennengelernt. Und das gleich in so einer unheimlichen, emotionalen Regung. Vielleicht war es ihr Schicksal, das sie gerade bei diesem Vollmond zusammengeführt hatte, wo sonst hätte er eine solche Szene machen können? Noch immer lag er nur regungslos da, schluchzte hin und wieder und schien ihr auf eine Reaktion zu warten. Sie wusste ihm jedoch nichts zu erwidern, so war alles, was sie zu tun wusste, ihn in die Arme zu schließen. Er begrüßte dies offensichtlich sehr, denn sein Schluchzen ließ merklich nach. Und - obwohl sie nie genau verstehen würde, warum sie das tat; vielleicht, weil ihr noch nie ein Mann dermaßen zu Füßen gelegen war, vielleicht, weil es das stärkste Mittel war, das ihr in den Sinn kam, um ihn aus seiner Einsamkeit und Verzweiflung zu erlösen - in einer spontanen Bewegung küsste sie ihn zärtlich auf die Stirn.

Das sprengte endgültig seine Zweifel hinweg. Zusammen mit seinen Hemmungen und einem großen Teil seiner Weltanschauung. Aus den Lippen dieser Frau fühlte er echte Liebe in seinen Körper fließen, rein wie ein Gebirgsquell und wie ein solcher klein entspringt, sich durch Gestein und Erde seinen Weg bahnt, um schließlich als gewaltiger Strom das Land zu zerteilen, wuchs auch jene Regung in seinem Körper immer stärker an, bis sie seinen Geist ganz zerriss. Der eine Teil verweilte in ihm wie in Ekstase und verlangte nach mehr, während der andere ganz aus den physischen Grenzen hinausstrebte, um sich in jenes göttliche Wesen zu ergießen, ihr Inneres völlig in der neu entdeckten Leidenschaft zu ertränken. Von Verzweiflung war keine Spur mehr in ihm. Da war nur noch Dankbarkeit, Liebe und Hingabe. Von diesen Gefühlen getrieben spürten seine Lippen nach den ihren, fanden sie jedoch zunächst nicht und übersäten stattdessen ihren Hals mit Küssen, während seine Arme ihren Unterleib umschlangen und bald ihren Rücken nach oben wanderten.

Von der Erwiderung ihrer Zärtlichkeit fast überrascht, erschrak sie zunächst und zögerte, dem weiter nachzugeben, als sie merkte, wie sehr der eben noch Zerstörte für sie entflammt war, warf jedoch, indem sie auf ihre innere Stimme hörte und der heimlichen Hingezogenheit in ihrem Herzen stattgab, jene Barriere bald über den Haufen und ließ sich von den gewaltigen, sinnlichen Eindrücken überwältigen. Sie beugte ihren Kopf seinem entgegen, damit ihre Lippen aufeinandertreffen konnten, dann wartete sie die Gefühlsexplosion ab, die bei deren Berührung kommen sollte - und sie kam. Die Beiden versanken ineinander in dem Bestreben, auf jede erdenkliche Art mit dem Anderen eins zu werden. Man glaubte, das Herz des Anderen schlagen zu hören, doch das mochte eine vom Rausch bewirkte Halluzination sein, da man im Trommelfeuer der Pulsschläge unmöglich einen vom anderen hätte unterscheiden können. Aber ganz ungeachtet der Wahrnehmbarkeit schlugen sie beide für dieselbe Sache. Und sie würden nicht ruhen wollen, ehe die Körper ganz miteinander verschmolzen wären. Und so begab es sich. Beobachtet vom Sternenhimmel und vereinzelten Waldbewohnern ließ man alle Hüllen fallen und trieb es bis zum Äußersten - wie lange, vermag niemand zu sagen. Für die Beiden existierten weder Zeit noch Raum, sie befanden sich in einer eigenen Dimension.

Als es vorbei war - es war noch tiefe Nacht -, lagen sie still einander in den Armen, fühlten die herrliche Natur, die sie von allen Seiten umgab und schlossen still miteinander einen heiligen Bund, einen unauflöslichen Vertrag über Körper und Seele. Die Szenerie war unbeschreiblich. Doch sie wurde jäh zerstört, als sich uneingeladen weitere Protagonisten auf der Bühne einfanden. Drei Burschen aus dem Dorf, fromme und unbescholtene Kerle, hatten sich diese Nacht für eine Wanderung am Seeufer entlang erwählt, in deren Verlauf sie zwangsweise auf die Geflüchteten, voneinander Gefundenen stoßen mussten. Dies geschah nun in etwa zu der Zeit, von der ich gerade schrieb. Als sie die Beiden erblickten, erweckten diese zunächst ihre Neugier, da sie die Spannung spüren konnten, die um das Paar herum in der Luft lag. Zunächst gebot ihnen der Respekt einigen Abstand, doch auf wiederholte gegenseitige Provokation hin schlichen sie sich immer näher an die Szene heran, damit auch kein Detail ungesehen bliebe. Zuletzt waren sie sogar so nahe, dass sie die Gesichter der Träumenden sehen und erkennen konnten. Hierauf nun war alle Scham vergessen - die Jungs waren wohlerzogen.

"Seht mal, wer da ist!" rief einer aus der Bande, wodurch die Beiden, aus den Träumen gerissen, sich erschrocken aufrichteten und vergeblich versuchten, mit gegenseitiger Hilfe ihre Blöße zu bedecken. Das schien die Neuankömmlinge nicht sonderlich zu beeindrucken, im Gegenteil, sie amüsierten sich königlich über ihren Fang. Schließlich äußerte sich Justin ein wenig aufgebracht, hauptsächlich aber immer noch peinlich berührt: "Was wollt ihr hier? Verschwindet! Seht ihr nicht, dass wir allein sein wollen?" Diese Ermahnung malte einem der Jungs ein freches Grinsen ins Gesicht, während die anderen sich vor Lachen schüttelten, meinte er selbstsicher: "Hör sich das einer an! Er will alleine sein! Bist Du das nicht immer, Höhlenmensch?" Seine Stimme klang höhnisch und nagte an den Nerven des Angesprochenen. "Und Du bist doch die Hexe!" setzte ein anderer an, doch auf den strafenden Blick des ersten Sprechers hin - er schien in der Gruppe das Sagen zu haben - hielt er den Mund und zog sich zurück. Hexe? Der Mann glaubte, nicht recht gehört zu haben. Was erlauben sich diese Bengel! Denen sollte man... Er grollte innerlich. Ruhig, Justin, ruhig... sie meinen es nicht so. Und es sind fast noch Kinder, sie werden wissen, wem sie zu gehorchen haben. "Hört mal, ich hab es wirklich ernst gemeint, ihr zieht jetzt besser Leine, sonst könnt ihr euch auf was gefasst machen!" fuhr er sie an und versuchte, dabei so überzeugend wie möglich zu klingen. May kauerte mit sehr unsicherem Blick ein Stückchen hinter ihm, dabei sollte sie ihm beistehen, er fühlte sich so schwach... Vielleicht hatte seine Stimme doch ein wenig gezittert, vielleicht waren diese Knaben einfach nur unbelehrbar, jedenfalls dachten sie nicht daran, zu verschwinden, geschweige denn, ihren Ausdruck zu mäßigen. Sie schienen nicht den geringsten Respekt vor ihm zu haben. Wer hat ihnen das nur beigebracht? Ihr Anführer lachte schallend. "Ach, Höhlenmensch, was hast du den-?" "Ich hab einen Namen! Justin!" Langsam geriet er in Rage. Nicht gut, gar nicht gut... der andere redete unbeirrt weiter. "Halt doch die Klappe Höhlenmensch." Als wäre seine Meinung von keinerlei Wert... "Ich wusste immer, dass ihr euch eines Tages finden würdet. Euch will sonst sowieso keiner haben." Justin wusste nicht, ob die Beleidigung an sich ihn mehr schmerzte oder die Tatsache, wie sehr der Junge damit recht hatte. Er hatte sich kaum noch unter Kontrolle, in ihm brodelte es. Wenn er sich jetzt noch irgendwie beruhigen könnte, dann höchstens... "Sei still! Bitte... seid alle still. Seid still oder geht, lauft weg, nach Hause, schnell! Aber tut nichts Unüberlegtes." Nicht lernfähig. "Unüberlegtes? Haha! Du meinst, wie mit dem einzigen Menschen im Dorf zu schlafen, der noch weniger geachtet wird als man selbst?" Genug. "Haha, nein, warte! Ich weiss, was ihr vorhabt! Ihr macht Kinder und dann gründet ihr im Wald eine eigene Siedlung von Wilden!" - "Schluss jetzt!" - "Halt Dein Maul! Abschaum! Ihr seid beide Abschaum! Wer sonst könnte wie die Tiere mitten im Wald fi--" Diesmal hielt er tatsächlich ein. Der Blick, den Justin ihm zuwarf, war so voller Wut, dass er dem Anderen auf der Netzhaut brennen musste. Kam er zur Vernunft? Noch - vielleicht noch rechtzeitig? Doch der Hoffnungsschimmer trog, denn er zögerte nur einen Moment. Dann trat er achtlos an ihm vorbei und spuckte May ins Gesicht. Ein kurzer Blick nach oben. Dann schrie Justin - vor Wut. Und diesmal brüllte er bestialisch. Wenn die Kinder jetzt etwas einsahen - zu spät. Alles um ihn verschwamm.

 

- dann kam das Blut. Schwälle davon. Er saugte es gierig auf, wusste nicht genau, woher es kam und wie an seine Hände - seine Klauen -, doch es war ein wunderbares Gefühl. Wie aus der Ferne hörte er Schreie. Schmerzverzerrte Gesichter. Eines war bereits ausdruckslos, im Blut versunken. Zwei wandten sich ab. Sie rannten. Sehr gut. Es war ein Spiel, es hieß "Fang das Menschlein" und es machte ihm einen Riesenspaß. Nach kurzer Zeit hatte er den ersten eingeholt, in Zeitlupe trennten sich seine Glieder vom Leib - war er das? -, dann brach sein Bauch auf, bis zum Hals wurde er zum Springquell warmen, köstlichen Blutes, dann sank er nieder. Er wollte noch ein bisschen mit ihm spielen, doch der Körper regte sich nicht mehr. Langweilig. Einer war noch übrig. Er konnte ihn nicht mehr sehen, doch eindeutig wittern. Er entfernte sich, zwar im Zickzack, doch eindeutig in Richtung Dorf. Diesmal würde er sich wohl wirklich sputen müssen. Also rannte er, flog, der Geruch wurde stärker, dann sah er ihn. Eine Art Entsetzen stand in seinem Blick - Überraschung! Dann rannte er nicht mehr. Vielleicht hätte er ihm das Genick durchbeissen sollen, doch es war gerade so lustig, er brach ihm nur die Beine. Das Opfer kroch von ihm weg, gab seltsame Fleh- und Klagelaute von sich... es zitterte. Aber vor allem schwitzte es, herrlicher Angstschweißgeruch stieg ihm in die Nase und verdrehte ihm den Kopf. Nur einen Moment genießen. Dann ging es weiter. Der Kleine wandte den Kopf, wollte wohl sehen, was ihn erwartet. Er zeigte es ihm, bleckte seine Fänge, blutig von der bisherigen Jagd. Und der Anblick tat seine Wirkung, das kleine Ding blieb auf der Stelle liegen. Jetzt bloß nicht in Ohnmacht fallen! Zum Glück tat es ihm auch diesen Gefallen, erfreute ihn sogar noch mehr, indem es dem Angstschweiß einen sanften Harngeruch beimischte. Was für ein braver Bursche. Braves Opfer. Bringen wir es zuende.

Mit einem kurzen Satz war er über ihm, starrte auf das Gesicht, das sich kreideweiß der Bestie obenauf präsentierte. Wolltest du nicht lachen, Junge? schoss es dem Tier von irgendwoher durch den Kopf. Lass mich dir helfen. Mit Wucht rammte er seine Klaue in den kleinen Hals, worauf dem glucksende Würgelaute entrannen, zu denen sich der Mund rhythmisch öffnete und schloss. Guter Anfang. Jetzt zeig mir noch Deine hübschen, weißen Beißerchen. Achte nicht auf das Blut dazwischen - aber gut, ich werde sie ein wenig freilegen. Mit diesem Gedanken schloss sich das gewaltige Maul über dem Köpfchen, riss die Lippen vom Gesicht und alles, was es sonst erwischen konnte, dann besah das Monster sein Werk erneut. Ein beinahe blanker, weißer Schädel starrte ihn an, abgesehen von den Augen, die noch immer in ihren Höhlen ruhten. Macht nichts. Euch brauche ich nicht mehr. Schlaft gut. Ein kräftiger Ruck und er hielt den Kopf in der Klaue. Dann warf er ihn achtlos beiseite, ignorierte das Blut, das weiterhin aus dem nun ganz offenen Hals rann und machte sich daran, zurückzugehen. War da nicht noch etwas gewesen? Jemand, der zurückgeblieben war? Als er das Ufer erreichte, saß neben einer Leiche das Mädchen und weinte. Wein doch nicht, meine Kleine! Dich kenne ich doch... Seine Wut war fast verflogen, doch sie lebte noch - wieso? In Ruhe sah er sie an, sie blickte zurück in die Augen der Bestie. In ihrem Blick lag etwas Suchendes. Er schien zu fragen: Bist Du es? Und die Bestie fragte sich: Bin ich wer? Und dann: Wer bin ich? Ich habe hier gesessen... ich habe geweint... geweint wegen... meiner selbst. Dessenwegen, was ich nun bin. Und ich war - nein, ich bin der Mann, der sie, vielleicht der Mann, den sie liebte. War das die Botschaft ihres Blickes? Die Bestie bekam Kopfschmerzen... schwere Kopfschmerzen... dann brach sie zusammen.

 

Als der Mensch Justin wieder erwachte, blickte er in ein verstörtes Mädchengesicht. Wanderte er mit dem Blick tiefer, konnte er auf ihrem nackten Körper einige Blutflecken erkennen, allerdings ohne dazugehörige Wunden. Glücklicherweise. Dennoch, er schuldete ihr Trost, Hilfe, Wiedergutmachung für all dieses Leid, das er schon wieder verursacht hatte. "Ich hab es dir ja gesagt." wisperte er. "Ich bin ein Monster. Lass mich allein und flieh. Was zögerst Du?" May tat nichts von dem, was er ihr vorschlug. Dafür fühlte er unaussprechliche Dankbarkeit, aber auch einen Schmerz, der sein Innerstes verzehrte. Diesmal war es noch gut gegangen, aber was würde beim nächsten Mal sein? Es ist Unsinn, überhaupt an ein nächstes Mal zu denken, sie konnte unmöglich bei ihm bleiben, schon gar nicht über lange Zeit. Es war ein Irrtum gewesen, an die Liebe zu glauben, als hätte eine solch verabscheuungswürdige Kreatur sie verdient. Und trotz allem sah sie ihm weiter in die Augen, nach dem, was er getan hat, sah ihm in die Augen, als hätte sich an ihren Gefühlen nichts geändert und er konnte nicht anders, als ihren Blick zu erwidern. Es schien ihm fast, als würde er aus tiefster Hölle zum Himmelstor aufblicken. Eine einzelne Träne tropfte von ihrer Nase auf sein Gesicht. Dann sprach sie - und auch hier drängte sich ihm der Vergleich mit einem Engel auf. "Ich zögere... Idiot... ich habe mir den Teufel ins Haus geholt. Das wusste ich von Anfang an. Natürlich hätte alles besser laufen können, aber ich habe das Risiko einer Katastrophe immer in Betracht gezogen. Ich habe mich trotzdem auf Dich eingelassen. Und ich hätte es getan, wenn alles auf der Welt dagegen gesprochen hätte, alles andere. Warum? Weil ich das Gefühl habe, Justin, dass Du der Richtige für mich bist. Irgendwo ganz tief in meinem Herzen. Ich glaube, ich liebe dich." Der traurigen Lage zum Trotz und obwohl ihre Augen noch weinten, zeichnete sich bei den letzten Worten ein Lächeln auf ihren Lippen ab. Diese Mischung der Gefühle bot einen grotesken Anblick, doch er überzeugte Justin davon, dass sie die Wahrheit sagte. Das brachte auch ihn dazu, matt zu lächeln. Ihre Lippen... er mochte sich daran erhängen. "Ich liebe dich auch. Davon bin ich überzeugt. Und wir machen beide einen großen Fehler." flüsterte er und wünschte dabei nichts sehlicher, als dass sie ihn zum Schweigen bringen möge. Als hätte sie seine Gedanken gelesen, tat sie genau, was er sich erhofft hatte. Sein müde klopfendes Herz jubilierte, als sie ihn küsste, dann verließen ihn die Kräfte und er sank zu Boden.

Ihr erster Gedanke war: ist er tot? und eine Welle von Panik erfüllte sie. Dann jedoch hörte sie sein regelmäßiges Schnaufen und konnte sich fürs Erste beruhigen. Zwar war diese Sturmflut grässlicher Ereignisse eine seelische Tortur gewesen, doch für den Moment klammerte sie sich an jeden Strohhalm. Es lag ohnehin noch einiges vor ihr. Wohin mit den Leichen, sofern noch etwas von ihnen übrig war? Sie blickte auf den Fleischhaufen ganz in ihrer Nähe, der aussah wie mit einem Tranchiermesser bearbeitet und ihr wurde kurz übel. Sie machte sich bewusst, dass derselbe Mann, dem sie eben ihre Liebe versprochen hatte, drei Morde verübt hatte, in welchem Zustand auch immer. Er war nicht er selbst gewesen, doch man würde es ihm anhängen und vielleicht sogar mit Recht, denn wen sonst sollte man verantwortlich machen? Natürlich fiel ihr hierzu ein: die Opfer selbst. Sie hatten sich ans Messer geliefert, sich mit dem Falschen angelegt und Gott hatte sie dafür bestraft. Doch Gott ließ sich nicht zur Rechenschaft ziehen und es mochte Richter geben, die eine andere Rechnung aufstellen würden als sie, weil sie nicht dabei gewesen waren, weil sie nie die Erfahrung gemacht hatten, als Ausgestoßener behandelt zu werden. Zunächst sollte sie ihn verstecken, dann die Leichen(-teile), um sich nach getaner Arbeit schnellstmöglich zu ihm gesellen oder davonmachen zu können - Letzteres natürlich nur, wenn sie davon ausgehen konnte, dass ihm keine Gefahr drohte. Zunächst sah sie sich nach geeigneten Verstecken um, hatte auch bald Eines für ihn und Eines für die Leichen gefunden. In der Nähe der Stelle, wo sie sich befanden, gab es eine überhängende Böschung, die einen kleinen Unterstand bot, der allerdings mit allerlei Gestrüpp zugewuchert war. Dem unbefangenen Betrachter würde er nicht auffallen, sie kannte ihn nur, da sie als Kind... bis vor einigen Jahren sehr oft zum Spielen an den See gekommen war. Dorthin schleppte sie den Schlafenden, nachdem sie halb amüsiert festgestellt hatte, dass er genau wie sie noch immer völlig nackt war. Sie streichelte kurz über den stattlichen Körper, dann packte sie ihn und zog ihn weg. Zum Glück führte ein gerader Weg dorthin und die Entfernung war nicht groß, denn er brachte einiges auf die Waage und sie war nicht die Kräftigste. Nichtsdestotrotz gelang es ihr, dieses Unterfangen erfolgreich zu Ende zu führen.

Dann ging es an die Leichen. Sie hatte nicht gewusst, welche Überwindung dies von ihr fordern würde, bis sie tatsächlich vor dem ersten Kadaver stand. Sie überlegte kurz, ob sie ihre Kleidung zusammensuchen sollte, um das erkaltende, bluttriefende Fleisch nicht direkt auf der Haut spüren zu müssen, doch dann fiel ihr ein, dass sich das Blut natürlich auf den Stoff übertragen würde und sie mit diesen Verschmutzungen unmöglich ins Dorf zurückkehren können würde. Also schluckte sie kurz, nahm tief Luft und griff sich den ersten Teil der Überreste von Opfer Nummer eins. Dass sie sich leichter transportieren ließen, war ein wesentlicher Vorteil der Art, wie die Bestie die Leichen verstümmelt hatte, obwohl sie kaum glaubte, dass dies als Absicht dahintergestanden hatte. Allerdings trieb ihr die Überlegung ein gequältes Grinsen ins Gesicht. In ihrer Nase brannte der Verwesungsgestank. Nur ein kleines Stück von hier... Bei dem Versteck, das sie sich erdacht hatte, handelte es sich um einen seit langer Zeit verlassenen Dachsbau, den sie ebenfalls als Kind entdeckt hatte. Sie hatte sich nie getraut, hineinzuklettern aus Angst, nicht mehr herauszukommen, doch sie nahm an, dass darin ausreichend Platz war - und das erste Problem hatte ihre Fracht ohnehin nicht. Ihr Weg führte sie in Richtung des Dorfes, wobei ihr ein wenig mulmig wurde, doch lag ihr Ziel noch in einigem Abstand davon und es musste ohnehin sein. Gedanken konnte sie sich später machen. Bis sie ankam, hatte sie auch die anderen Leichen entdeckt, sie lagen praktischerweise auf dem Weg, ähnlich übel zugerichtet, wie sie es erwartet hatte, doch alle Erwartung hatte sie nicht gehindert, beim Anblick ins Würgen und mit ihrer Last ins Stolpern zu kommen. Ihr geübtes Auge fand schnell die Öffnung im Boden und sie stopfte das Mitgebrachte hinein. Es passte und sie hörte, wie es in die Höhle hinunterrutschte. Man würde ganz schön tief graben müssen, um hier etwas zu finden. In diesem Moment war sie wirklich mit sich selbst zufrieden.

Sie machte denselben Weg noch viermal, zwei Gänge noch für den Rest von Körper eins und zwei für Körper zwei, wobei sie den letzten Transport nur im Ziehen bewältigen konnte. Um dieses fast noch an einem Stück vorhandene Ding in den Bau hineinzuzwängen, bedurfte es einiger Kraftanstrengung und sie sah die Öffnung deutlich einbröckeln, aber sie hielt und schließlich verschwand es ebenfalls in der Tiefe. Als sie sich ab- und der dritten Leiche zuwandte, fiel ihr die deutliche Blutspur auf, die zum Dachsbau hinführte. Sie hoffte, auch dieses Problem noch lösen zu können, soweit sollte es allerdings nicht kommen. Denn die Versteckaktionen hatten so viel Zeit in Anspruch genommen, dass langsam die Morgendämmerung näherrückte, als sie die letzte Leiche zu Grabe tragen wollte. Da die vorherige Schlepperei sie sehr erschöpft hatte, nahm sie zunächst nur den Kopf mit in Richtung des Dachsbaus. Wie sie so unterwegs war, geschah ihr nun das große Unglück, dass sie auf einige Holzfäller stieß, die um diese Uhrzeit für gewöhnlich mit ihrer Arbeit begannen und es heute auf diesen Teil des Waldes abgesehen hatten. Es ist unschwer verständlich, dass sie, als sie sie sahen, inzwischen über und über mit Blut befleckt und unschwer erkennbar mit einem Menschenkopf in der Hand durch die Gegend wankend, offensichtlich erschöpft, schnell ihre eigenen Schlüsse gezogen hatten. Dass sie keine Waffe bei sich trug, womit sie den Kopf hätte abtrennen können, wurde durch den Ruf ausgeglichen, den sie im Dorf genoss.

Wären es weniger Männer gewesen oder hätten sie keine Äxte bei sich getragen, wären sie vermutlich sogar vor der erschreckenden Erscheinung davongerannt. So aber wandelte sich ihr Schrecken schnell in Wut und mit vereinten Kräften stürzten sie sich auf die vermeintliche Zauberin, die sie schnell niedergerungen hatten. Sie bedachten sie unter ihrem unsäglichen Gejammer und einigen Beteuerungen ihrer Unschuld, als sie sie fest im Griff hatten, mit unzähligen Schlägen und Tritten, die ihr fast allein die Lebensgeister austrieben. Als sie nun zu winseln und zu flehen anfing, war einer der Männer von dem, was er für Falschheit hielt, so angewidert, dass er ihr an Ort und Stelle den Kopf abschlagen wollte, und er hätte es getan, hätten seine Kollegen ihn nicht gehindert und ihn ermahnt, dass sie in Anbetracht ihrer grausigen Tat doch einer anderen Strafe zugeführt werden müsse. So war es abgemacht, zwei der Männer hielten und führten sie ins Dorf, wo ihr der Prozess gemacht werden sollte, während die anderen unter unsäglichem Ekel die entstellte Leiche als Beweis mittransportierten. Im Dorf war das Entsetzen groß, viele allerdings waren der Ansicht, das sei zu erwarten gewesen und die Justiz war schnell mit ihr fertig. Es war ein klarer Fall. Der Vollzug sollte - auf Drängen der Bürger - so bald wie möglich vonstatten gehen, entsprechend schnell wurden die Vorbereitungen getroffen.

Mit den ersten Strahlen des Morgenlichtes erwachte Justin in seinem Versteck. Zwar schien die Sonne nicht direkt hinein, doch seine Sinne merkten sofort, dass es hell wurde. Er wolte so schnell wie möglich hinaus und seine Geliebte in die Arme schließen, wenn er allerdings zurückdachte, fragte er sich, was wohl aus den Leichen geworden sein mag. Hatte sie sie versteckt? Wie sie es mit ihm offensichtlich getan hatte? Denn er konnte sich erinnern, dass er unter einem freien Himmel eingeschlafen war. Und unter ihren Augen natürlich... er stellte fest, dass er immer noch nackt war und beschloss, zunächst seine Kleider suchen zu gehen. Er fand sie am See, wo er sie ausgezogen hatte - vermutlich, denn es war rasend schnell gegangen und er hatte in dem Moment anderes im Sinn gehabt. Daneben lagen Mays Kleider, doch von ihr selbst war keine Spur. In ihm stieg eine böse Vorahnung auf. Schnell schlüpfte er in seine Sachen, dann griff er sich ihre und lief eilig in Richtung der Siedlung, wobei er sich immer wieder umsah und ihren Namen rief. Natürlich bekam er keine Antwort. In der Siedlung angekommen hielt er immer noch das Kleid in der Hand, anhand seiner wollte er sich durchfragen, doch er sah zunächst niemanden. Das verwunderte ihn, denn die Siedlung war sehr klein, wurde von vielleicht 150 Menschen bewohnt (inklusive eines Pfarrers natürlich) und es passierte so gut wie nie etwas, weswegen die Leute die Tage bei der Arbeit, in oder vor ihren Häusern verbrachten. Als er sich ein wenig in die Siedlung vorwagte, sah er etwas, das vermutlich die Ursache für diese Leere war: Auf dem großen Platz in der Mitte der Siedlung schien sich die Gesamtheit der Einwohner versammelt zu haben, um einem Schauspiel beizuwohnen. Oh nein, doch bitte nicht... dachte er bei sich und seine Vorahnung wuchs zu Furcht heran.

Sie bestätigte sich, als er näherkam, denn im Mittelpunkt des Interesses aller war ein Scheiterhaufen aufgerichtet worden, auf dem sich eine ihm nur allzu gut bekannte Gestalt befand. Sein Herz lag wie ein Klumpen in der Brust. Mein Gott - was habe ich getan? Und warum sie? Er konnte nicht anders, als einen der Zuschauer um Auskunft zu bitten. Auf die Frage, was los sei und was das Weib getan habe, bekam er zur Antwort, sie sei eine Mörderin, habe einem braven, jungen Menschen vermutlich mit Hilfe des Teufels den Kopf abgerissen, dies aber bis zuletzt geleugnet - damit wiederhole er nur, was der Richter bereits in seiner Rede eben gesagt habe - und nur mit einiger Gewalt zu einem Geständnis bewegt werden können. Die letzten Worte jagten ihm einen eiskalten Schauer über den Rücken. Was hatte sie erdulden müssen - für ihn? Und nun sollte sie gar sterben? Wie hatte sie nur gestehen können, statt ihn zu verraten? Er fühlte sich elend und gleichzeitig rasend. Als er sah, wie man dabei war, das Feuer zu entzünden, konnte er nicht anders, als panisch zu schreien, man möge einhalten und sich mit aller Gewalt durch die Menge vorzukämpfen, womit er einige Probleme hatte, denn die anderen Anwesenden waren über den irren Drängler nicht sehr erfreut, um letztlich den Ausgang zu erreichen - und den Scheiterhaufen brennend vorzufinden. Er war zu spät. May! Er schrie, wollte sie retten um jeden Preis, doch sie hörte ihn nicht, hatte die Augen niedergeschlagen, litt vermutlich höllische Schmerzen. Da alles vergebens schien, wollte er sich zu ihr in die Flammen stürzen, ob er sie nun retten konnte oder nicht, doch sein Körper hinderte ihn daran, das Feuer war zu heiss, es tat weh, er zuckte wieder und wieder zurück. Die Leute hinter ihm begannen zu murmeln, berieten, ob sie ihm zu Hilfe kommen und ihn von dort wegzerren sollten, da er sicher in einem letzten satanischen Akt von ihr verzaubert worden sei. Ein Stich traf ihn im Herzen, denn sie hatte ihn wirklich verzaubert, zum ersten Mal in seinem Leben wahres Glück zu kosten gegeben. Musste es so vergänglich sein? Nun würde sie sterben, für Verbrechen, die er begangen hatte, als er nicht er selbst war. Womöglich hatte sie sich für ihn geopfert. Für ihn hatte die Welt wirklich all ihre Grausamkeit aufgebracht. Wäre er doch nur an ihrer Stelle! Wie oft hatte er sich den Tod gewünscht? Und dann traf er sie, eine Schönheit in der Blüte ihrer Jugend... Er konnte nur vor ihr knien und zusehen, während das immer heisser werdende Feuer seine Tränen trocknete und ihn der Rauch vergiftete. Es war vorbei. Die Menge applaudierte.

Am nächsten Abend sollte der Mann wieder in den Wald gehen. Er wollte dort bleiben und nie wieder den Morgen sehen. Denn er wusste, dass kein Lichtstrahl der Welt je wieder sein Herz erreichen würde, seit ihre Augen erloschen waren. Mond und Sterne waren kalt und blass, als er hochsah. Es schien immer finsterer zu werden. Schließlich schloss sich der Himmel über ihm. Noch nie hatte er sich so verloren gefühlt.

 

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Vom Wolkentuch bleibt bis zum Morgen

des Mondes sanftes Licht verborgen,

schwarz stehn die Wipfel in der Höh´

und strahlt sein Spiegelbild im See.

 

Und keine zarten Schleier tragen

nun Nachtflügel, die sachte schlagen,

aus keiner Kehle flieht ein Laut,

noch sich der Wald zu atmen traut.

 

Horch in Dich - nichts. Ein leerer Raum.

So still wie die Natur, so düster

wie ein im Schlaf vermisster Traum.

 

Zerfließ in zaghaftem Geflüster,

doch wider aus dem Dunkel klingt

nur Schweigen, das dich ganz durchdringt.

 

 

ENDE
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